BVerfG
Pressemitteilung Nr. 35
vom 03. 04. 2001

Zur Pflegeversicherung


Der Erste Senat des BVerfG hat heute vier Urteile verkündet, die sich mit verschiedenen Aspekten der Pflegeversicherung befassen. Zum rechtlichen Hintergrund wird auf die Pressemitteilung Nr. 83/2000 vom 20. Juni 2000 verwiesen, die auf Anfrage gern übersandt wird. Im Wesentlichen geht es um:

die gesetzliche Verpflichtung für privat Krankenversicherte, überhaupt einen privaten Pflegeversicherungsvertrag abzuschließen (a);

die Frage, ob eine kleine Gruppe, die, weil sie nicht krankenversichert ist, von der Pflegeversicherung ausgeschlossen werden darf (b);

die Berücksichtigung von Betreuung und Erziehung von Kindern bei der Bemessung der Beiträge/Prämien (c und d);.

die Prämienhöhe in der privaten Pflegeversicherung (d).

a) In dem Verfahren 1 BvR 2014/95 hat sich eine Rechtsanwältin (Beschwerdeführerin; Bf) unmittelbar gegen das SGB XI gewandt, soweit es den gegen Krankheit privat Versicherten den Abschluss einer privaten Pflegeversicherung vorschreibt. Sie hat die Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG) und des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) geltend gemacht.

Der Erste Senat hat die Verfassungsbeschwerde (Vb) zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen festgestellt:

1. Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz zum Erlass der angegriffenen Vorschriften. Für die soziale Pflegeversicherung folgt dies aus der Bundeskompetenz für das Gebiet der Sozialversicherung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Hinsichtlich der privaten Pflegeversicherung kann der Bund den Kompetenztitel "privatrechtliches Versicherungswesen" als Teil des"Rechts der Wirtschaft" in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG in Anspruch nehmen. Unter diesen Oberbegriff fallen Regelungen jedenfalls dann, wenn

- sie Versicherungsunternehmen betreffen, die im Wettbewerb mit anderen durch privatrechtliche Verträge Risiken versichern,

- die Versicherungsprämien grundsätzlich am individuellen Risiko und nicht am Einkommen des Versicherungsnehmers ausgerichtet sind und

- Leistungen im Versicherungsfall aufgrund eines kapitalgedeckten Finanzierungssystems erbracht werden.

Die Kompetenznormen in Art. 74 Abs. 1 GG sind nicht statisch. Der Gesetzgeber kann sich deshalb auch dann auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG stützen, wenn bei einem neuen Typ von Versicherung Leistungen des sozialen Ausgleichs vorgesehen werden und während einer Übergangszeit die das private Versicherungswesen prägenden Merkmale nur begrenzt wirken.

Die entsprechenden Regelungen des SGB XI erfüllen die oben dargestellten Kriterien. Die private Pflegeversicherung beruht auf einem Vertrag, der nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und ergänzend des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) zustande kommt. Die verschiedenen Krankenversicherungsunternehmen, die eine private Pflegepflichtversicherung anbieten, stehen im Wettbewerb mit einander. Eine gesetzliche Versicherungspflicht und als deren Gegenstück der Kontrahierungszwang für das Versicherungsunternehmen sind dem Privatrecht nicht fremd. Gleiches gilt für gesetzlich vorgesehene Mindestleistungen. Allerdings ist in der Einbeziehung bereits Pflegebedürftiger in die Versicherungspflicht ein wesentlicher Unterschied zum allgemeinen Versicherungsvertragsrecht zu sehen. Diese Abweichung ist aber jedenfalls als Übergangsregelung von der Gesetzgebungskompetenz umfasst. Der Senat setzt sich mit weiteren Regelungen auseinander, in denen das Pflegeversicherungsgesetz signifikant von herkömmlichen Privatversicherungen abweicht. Dies gilt für die Prämiengestaltung (Prämienfreiheit für Kinder, zum Teil erhebliche Prämienvergünstigungen für pflegenahe Jahrgänge sowie nicht oder wenig verdienende Ehegatten und ältere Versicherte) sowie für die Umlage der Versicherungsunternehmen zum Ausgleich der durch diese Vergünstigungen entstehenden Unterdeckung. Dennoch stellt die private Pflegeversicherung eine Individualversicherung i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG dar, weil die Prämien grundsätzlich nicht nach dem Einkommen, sondern nach dem Alter der Versicherten und damit nach dem versicherungsmathematischen Risiko erhoben werden. Dies bestätigen die beigezogenen Daten, wonach die Prämien nach dem Lebensalter der Versicherungsnehmer erheblich variieren. Damit bleibt insgesamt das Bild einer risikoorientierten Gestaltung der privaten Pflegeversicherung gewahrt, zumal die Prämienvergünstigungen nach einer Übergangszeit abnehmen werden.


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2. Die angegriffenen Vorschriften sind auch materiell mit Art. 2 Abs. 1 GG vereinbar.

Zweck der Pflegeversicherung ist ein legitimer Gemeinwohlbelang: Fürsorge für Pflegebedürftige ist eine soziale Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft. Der Staat soll die Menschenwürde in der Situation der Pflegebedürftigkeit wahren. Er hat legitimer Weise auf ein Konzept zurückgegriffen, wonach die finanziellen Mittel hierfür durch eine Pflichtversicherung aller Bundesbürger aufgebracht werden. Die Regelungen zur Einführung der Pflegeversicherung sind auch verhältnismäßig. Die Einführung einer alle Bürger umfassenden Versicherung ist geeignet, das dargelegte Ziel zu erreichen. Dies gilt auch dann, wenn die Leistungen im Pflegefall begrenzt sind und vor allem in Fällen stationärer Pflege nicht ausreichen. Durch die Pflegeversicherung fördert der Gesetzgeber mittelfristig das Entstehen einer leistungsfähigen und bedarfsgerechten Pflegestruktur. Auch dies wird durch die dem Senat vorliegenden Daten bestätigt. Der Gesetzgeber durfte von der Erforderlichkeit einer die ganze Bevölkerung umfassenden Pflichtversicherung ausgehen, da große Teile der Bevölkerung mangels "Versicherungsdrucks" nicht bereit waren, sich freiwillig gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit zu versichern. Gleichermaßen durfte der Gesetzgeber alle Bürger in die Pflichtversicherung einbeziehen, auch wenn das Pflegerisiko erst im Alter signifikant ansteigt. Das Risiko als solches besteht für alle Bürger und kann sich, angefangen von Schädigungen bei der Geburt bis hin zu Unfällen, bei jedem jederzeit verwirklichen. Die Einbeziehung auch jüngerer Menschen in die Versicherungspflicht ist daher sachgerecht. Dies gilt umso mehr, als die Pflegebedürftigkeit, wenn sie in jungem Alter eintritt, die Betroffenen und ihre Angehörigen besonders hart trifft und finanziell und physisch überfordern kann. Schließlich sind die Regelungen über die Pflegeversicherung verhältnismäßig im engeren Sinne. Durch die Versicherungspflicht wird ein Lebensrisiko mit meist nicht finanzierbaren Folgen durch vergleichsweise niedrige Prämien kalkulierbar und im Versicherungsfall tragbar. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebot auch nicht, die bereits Pflegebedürftigen und die pflegenahen Jahrgänge generell der sozialen Pflegeversicherung zuzuweisen, um jüngeren privat Versicherten niedrigere Prämien zu ermöglichen. Bei dieser Lösung hätten die nur wenig oder durchschnittlich Verdienenden allein die Umlage für alle Menschen mit hohem Pflegerisiko (auch die privat Krankenversicherten) tragen müssen. Dies ist nicht geboten; der Gesetzgeber durfte die entsprechende Last auf beide Versicherungszweige (die private und die soziale Pflegeversicherung) aufteilen.

b) Das Verfahren 1 BvR 81/98 betrifft diejenigen Bundesbürger, die nicht in der sozialen oder privaten Pflegeversicherung pflichtversichert sind. Hierbei handelt es sich um rund 2 % der Bevölkerung, die weder gesetzlich oder privat krankenversichert sind noch die Möglichkeiten der freiwilligen Weiterversicherung nach § 26 SGB XI in Anspruch nehmen können. 90 % dieser Gruppe sind Sozialhilfeempfänger, die Anspruch auf Krankenhilfe nach dem BSHG haben. Bei den restlichen rund 150.000 Bürgern handelt es sich um Menschen, die weder krankenversichert sind noch leistungsberechtigt nach dem BSHG. Sie können nach dem SGB XI nicht freiwillig Mitglied der sozialen Pflegeversicherung werden und haben auch keinen Anspruch gegen private Krankenversicherungsunternehmen auf Abschluss eines Pflegeversicherungsvertrages. Der Bf, der seit Kindesbeinen geistig und körperlich behindert ist, gehört zu dieser Gruppe.

Nach dem Urteil vom heutigen Tage verstößt es gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), dass der Gesetzgeber schutzbedürftige Personen ohne Krankenversicherungsschutz vom Zugang zur gesetzlichen Pflegeversicherung ausgeschlossen hat, die als Volksversicherung angelegt ist. Diesen Personen ist zumindest ein Beitrittsrecht einzuräumen.

1. Der Senat führt zur Begründung zunächst aus, dass verfassungsrechtlich keine Bedenken dagegen bestehen, die Versicherungspflicht in der Pflegeversicherung grundsätzlich an das Bestehen eines gesetzlichen oder privaten Krankenversicherungsschutzes zu knüpfen. Bei der Einführung der Pflegeversicherung als "Volksversicherung" wollte der Gesetzgeber eine Versicherungspflicht nur für diejenigen Personen begründen, deren Erfassung mit einem vertretbaren Verwaltungsaufwand zuverlässig möglich war. Das Ziel einer möglichst praktikablen Umsetzung des Gesetzes, die aufwendige Feststellungsverfahren zur Ermittlung der Versicherungspflichtigen vermeidet, rechtfertigt es, dass der Gesetzgeber nicht die gesamte Wohnbevölkerung in Deutschland ausnahmslos gleichbehandelt und der Versicherungspflicht unterworfen hat. Er war nicht durch Art. 3 Abs. 1 GG gehalten, zur Verwirklichung einer lückenlosen Versicherungspflicht alle bisher nicht als Leistungsempfänger durch Versicherungsträger oder Sozialbehörden erfassten Personen ermitteln zu lassen.

2. Art. 3 Abs. 1 GG ist aber dadurch verletzt, dass der Gesetzgeber Personen wie dem Bf nicht auf andere Weise ein Zugangsrecht zur gesetzlichen Pflegeversicherung verschafft hat. Dies wäre etwa durch die Einräumung des Rechts möglich gewesen, innerhalb einer bestimmten Frist nach Inkrafttreten des SGB XI freiwillig der sozialen Pflegeversicherung oder einer privaten Pflegeversicherung beizutreten. Ein solches Recht erfordert keine Ermittlungen über den betroffenen Personenkreis. Es ist Sache der Betroffenen, sich zu melden und entsprechende Anträge zu stellen.Wie der Senat näher ausführt, gibt es keine hinreichenden Gründe, die der Gewährung eines Zugangs zur gesetzlichen Pflegeversicherung entgegengesetzt werden könnten. Dem Gesetzgeber stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, den Gleichheitsverstoß beim Zugang zur gesetzlichen Pflegeversicherung zu beseitigen. Ihm ist eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2001 eingeräumt um sicherzustellen, dass der Personenkreis, zu dem der Bf gehört, der gesetzlichen Pflegeversicherung mit Wirkung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des SGB XI beitreten kann. Für die Ausübung des Beitrittsrechts kann der Gesetzgeber eine Frist bestimmen und den Beitritt davon abhängig machen, dass der Betroffene Beiträge oder Prämien entrichtet. Für den Zeitraum vor der Bekanntgabe dieses Urteils ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, seitens des Gesetzgebers die Zahlung von Beiträgen oder Prämien und die Gewährung von Leistungen vorzusehen. Sofern die Leistungsgewährung an Vorversicherungszeiten geknüpft wird, ist sicherzustellen, dass die Betroffenen nicht schlechtergestellt werden, als hätte der Gesetzgeber ihnen bereits mit dem Inkrafttreten des SGB XI ein Beitrittsrecht eingeräumt.

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Der Senat weist im Übrigen darauf hin, dass der Gesetzgeber auf der Grundlage dieses Urteils prüfen muss, ob ein Beitrittsrecht zur gesetzlichen Pflegeversicherung auch solchen Personen einzuräumen ist, die nach dem Inkrafttreten des SGB XI keinen den Zugang zur gesetzlichen Pflegeversicherung begründenden Tatbestand erfüllen und im Pflegefall keinen Anspruch auf Hilfe gegen ein Sozialleistungsträger haben.

c) Das Verfahren 1 BvR 1629/94 betrifft die Beitragshöhe in der sozialen Pflegeversicherung. Der Bf, ein verheirateter Vater von zehn Kindern, hat sich dagegen gewandt, dass Betreuung und Erziehung von Kindern bei der Bemessung des Beitrags zur sozialen Pflegeversicherung nicht berücksichtigt werden. Dies verletze insbesondere Art. 3 und 6 GG sowie das Rechts- und Sozialstaatsprinzip.

Nach dem heutigen Urteil ist es mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden. Die entsprechenden Regelungen des SGB XI (§ 54 Abs. 1 und 2, § 55 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2, § 57 SGB XI) sind mit dem GG nicht vereinbar. Sie können bis zu einer Neuregelung, längstens bis zum 31. Dezember 2004, weiter angewendet werden.

1. Der Senat stellt zunächst klar, dass die Pflicht zur Förderung der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht bereits dadurch verletzt wird, dass überhaupt Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung von Eltern, die Kinder betreuen und erziehen, verlangt werden. Zwar werden Familien von finanziellen Belastungen, die der Staat seinen Bürgern auferlegt, regelmäßig stärker betroffen als Kinderlose. Sie haben den Unterhaltsanspruch ihrer Kinder zu finanzieren, können jedoch andererseits durch die Kinderbetreuung nicht in gleichem Umfang erwerbstätig sein wie Kinderlose oder müssen die Fremdbetreuung ihrer Kinder bezahlen. Aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt aber nicht, dass der Staat jede zusätzliche finanzielle Belastung von Familien vermeiden muss. Es ist daher nicht verfassungswidrig, dass der Erzieler des Familieneinkommens beitragspflichtig ist; der Staat muss diese Beitragslast auch nicht ausgleichen. Ob die staatliche Familienförderung offensichtlich unangemessen ist und dem Förderungsgebot aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht mehr genügt, ist eine Frage der Gesamtabwägung. Art. 6 i.V. m. dem Sozialstaatsgebot gibt lediglich eine allgemeine Pflicht zum Familienlastenausgleich vor. Es liegt innerhalb des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers, wie er dieser Pflicht nachkommt. Mit einer Regelung, nach der auch Familien Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung zahlen müssen, sind die Grenzen des Gestaltungsspielraums nicht überschritten.

2. Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG lässt sich auf der Leistungsseite der sozialen Pflegeversicherung ebenfalls nicht feststellen. Kinderlose erhalten im Durchschnitt nicht mehr Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung als Eltern. Der Senat setzt sich in diesem Zusammenhang insbesondere mit der Frage auseinander, ob der Aufwand der Pflegeversicherung bei Pflegebedürftigen, die Kinder erzogen haben, geringer ist als bei Kinderlosen. Unterschiede sind insofern bei stationärer Pflege nicht nachweisbar. Es liegen keine Daten vor, die dafür sprechen, dass Kinderlose häufiger stationäre Pflege in Anspruch nehmen als Pflegebedürftige mit Kindern. Allerdings bestehen bei der ambulanten Pflege Unterschiede. Die Gesamtausgaben für kinderlose Pflegebedürftige ab 60 liegen rund 10% höher als die Ausgaben für die gleiche Altersgruppe mit Kindern. Dies kann darin begründet sein, dass Pflegebedürftige für pflegende Töchter und Schwiegertöchter nur das niedrigere Pflegegeld nach der Pflegeversicherung beziehen, während Kinderlose häufiger die Sachleistungen durch professionelle Pflegedienste in Anspruch nehmen. Insgesamt sind die Mehrausgaben für Kinderlose in den höheren Altersgruppen jedoch maßvoll. Es ist gerade Ausdruck des solidarischen Ausgleichs durch die Pflegeversicherung, Pflegeleistungen für solche Menschen zur Verfügung zu stellen, die nicht auf pflegende Familienangehörige zurückgreifen können. Außerdem kann für die Zukunft nicht zuverlässig angenommen werden, dass Pflegebedürftige von ihren Kindern gepflegt werden.

3. Der Erste Senat stellt jedoch eine verfassungswidrige Benachteiligung von Eltern auf der Beitragsseite der sozialen Pflegeversicherung fest. Er geht dabei davon aus, dass das Risiko, pflegebedürftig zu werden, jenseits der 60 deutlich und jenseits der 80 sprunghaft ansteigt. Pflegebedürftige sind deshalb auf die Pflegeversicherungsbeiträge der nachwachsenden Generation angewiesen. Auf Grund dieses Umlagesystems profitieren die Kinderlosen von der Erziehungsleistung der Eltern. Beide sind darauf angewiesen, dass genug Kinder nachwachsen, die in der Zukunft Beiträge zahlen und ihre Pflege finanzieren. Dies ist unabhängig davon, ob sie selbst Kinder erzogen und damit zum Erhalt des Beitragszahlerbestandes beigetragen haben oder nicht. Kinderlosen, die lediglich Beiträge gezahlt, zum Erhalt des Beitragszahlerbestandes aber nichts beigetragen haben, erwächst daher ein Vorteil. Zwar finanzieren sie mit ihren Beiträgen auch die Abdeckung des Pflegerisikos der beitragsfrei versicherten Ehegatten und Kinder mit. Insgesamt wird der Vorteil, den Kinderlose durch das Aufziehen der nächsten Generation erlangen, durch die Umlage für die Familienversicherten aber nicht aufgezehrt.

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Dieser systemspezifische Vorteil für Kinderlose in der sozialen Pflegeversicherung unterscheidet sich von dem Wohl, das aus der Erziehung und Betreuung von Kindern für die Gesellschaft im Allgemeinen erwächst. Kindererziehung liegt im gesellschaftlichen Interesse. Das allein gebietet noch nicht, sie in einem bestimmten sozialen Leistungssystem von Verfassungs wegen zu berücksichtigen. Wenn aber das Leistungssystem ein altersspezifisches Risiko abdeckt und so finanziert wird, dass die jeweils erwerbstätige Generation die Kosten für vorangegangene Generationen mittragen muss, ist für das System nicht nur die Beitragszahlung, sondern auch die Kindererziehung konstitutiv. Wird die zweite Komponente nicht mehr regelmäßig von allen geleistet, werden Eltern spezifisch in diesem System belastet, was deshalb auch innerhalb des Systems ausgeglichen werden muss. Allerdings kann der Gesetzgeber die Benachteiligung von Eltern solange vernachlässigen, wie eine deutliche Mehrheit der Versicherten Kinder bekommt und betreut. Dies folgt aus dem Recht des Gesetzgebers zur Generalisierung. Trägt die große Mehrheit der Beitragszahler daneben durch Erziehung und Betreuung von Kindern zum System bei, ist das System im Großen und Ganzen im generativen Gleichgewicht. Solange liegt es auch innerhalb des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, die Beiträge nicht danach zu differenzieren, ob Kinder erzogen werden oder nicht. Die Einführung des SGB XI im Jahr 1994 ohne Kindererziehungskomponente überschreitet jedoch den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum. Denn schon 1994 war bekannt, dass die Zahl der Kinderlosen in der Gesellschaft drastisch ansteigt. Der Gesetzgeber konnte nicht davon ausgehen, dass die große Mehrheit der Versicherten sowohl Beiträge zahlen als auch Kinder erziehen würde. Der Senat setzt sich mit den von den Sachverständigen vorgelegten Statistiken über die Bevölkerungsentwicklung auseinander, die ein deutliches Absinken der Bevölkerung und eine Veränderung der Altersstruktur prognostizieren. Bereits 1989 ging das Statistische Bundesamt davon aus, dass die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2030 um 10% zurückgehen und ein Drittel der Bewohner 60 Jahre und älter sein würde. Es war abzusehen, dass die Relation zwischen jüngeren Beitragszahlern und älteren Pflegebedürftigen sich stetig verschlechtert. Andererseits ist nicht zu erwarten, dass das Pflegerisiko älterer Menschen wesentlich sinken wird. Insgesamt müssen weniger Beitragszahler die Pflege der älteren Generation finanzieren und die Kosten der Kindererziehung tragen. Ein gleicher Versicherungsbeitrag führt damit zu erkennbarem Ungleichgewicht zwischen dem Gesamtbeitrag der Eltern (Kindererziehung und Geldbeitrag) und dem Geldbeitrag der Kinderlosen. Die hieraus resultierende Benachteiligung von Eltern ist im Beitragsrecht auszugleichen.

4. Da dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit der bestehenden Regelung offen stehen, sind die einschlägigen Normen nur als unvereinbar mit dem GG zu erklären. Sie können ausnahmsweise bis zum 31. Dezember 2004 weiter angewendet werden. Dies resultiert aus dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und dem Umstand, dass der Gesetzgeber prüfen muss, welche Wege einer verfassungsgemäßen Gestaltung der Pflegeversicherung in Betracht kommen. Bei der Bemessung der Frist hat der Senat berücksichtigt, dass die Bedeutung der Entscheidung auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen ist. Wie der Gesetzgeber die erforderliche relative Entlastung der kindererziehenden Beitragszahler vornimmt, kann er im Rahmen seines Spielraums selbst entscheiden. Sie muss aber den Eltern während der Zeit zugute kommen, in der sie Kinder betreuen und erziehen. Der Ausgleich kann nicht durch unterschiedliche Leistungen im Falle der Pflegebedürftigkeit erfolgen. Es ist geboten, bereits die Unterhaltspflicht gegenüber einem Kind zu berücksichtigen.

d) Der Schwerpunkt der Verfahren 1 BvR 1681/94, 2491/94 und 24/95 liegt in der Prämiengestaltung der privaten Pflegeversicherung. Die privat krankenversicherten Bf wenden sich dagegen, nicht in den Genuss des für sie günstigeren Beitragsrechts der sozialen Pflegeversicherung gelangen zu können. Zudem wenden die Bf sich teilweise dagegen, dass Kindesunterhalt und - betreuung bei der Berechnung der Prämienhöhe in der privaten Pflegeversicherung nicht berücksichtigt werden.

 


Der Erste Senat hat die Vb, soweit sie zulässig sind, zurückgewiesen. Zur Begründung heißt es unter teilweiser Bezugnahme auf die unter a) bis c) bereits dargestellten Urteile im Wesentlichen:

1. Die gesetzliche Verpflichtung, einen privaten Pflegeversicherungsvertrag abzuschließen, verstößt nicht gegen Art. 2 Abs. 1 GG. Sie ist insbesondere auch verhältnismäßig; ein Zutritt zur sozialen Pflegeversicherung für die privat Krankenversicherten musste vom Gesetzgeber nicht ermöglicht werden. Die Konzeption der gesetzlichen Pflegeversicherung als zweigliedriges System von sozialer und privater Pflegeversicherung liegt innerhalb des gesetzgeberischen Spielraums. Gleiches gilt für die von ihm vorgenommene Zuordnung der gesetzlich Krankenversicherten zur sozialen Pflegeversicherung und der privat Krankenversicherten zur privaten Pflegeversicherung. Wie der Senat ausführt, haben die meisten Bürger innerhalb der ersten drei Lebensjahrzehnte Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung und können sich auch bei Beendigung der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht freiwillig gesetzlich weiterversichern. Dementsprechend handelt es sich bei den privat Krankenversicherten zum größten Teil um Bürger, die - jedenfalls bei Vertragsabschluss - über ein höheres Einkommen verfügten und sich gegen die Weiterversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung entschieden haben. Daran durfte der Gesetzgeber bei der Zuordnung zur Pflegeversicherung anknüpfen. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn er die Mitgliedschaft in der sozialen Pflegeversicherung danach abgrenzt, wer bei typisierender Betrachtungsweise zur Bildung dieser Solidargemeinschaft erforderlich und wer des solidarischen Schutzes bedürftig ist. Das Wahlrecht der freiwillig gesetzlich Krankenversicherten hinsichtlich der Art der Pflegeversicherung folgt daraus, dass diese auch aus der gesetzlichen Krankenversicherung jederzeit ausscheiden können.

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2. Es liegt kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) darin, dass die Prämienlast in der privaten Pflegeversicherung im Einzelfall höher ausfallen kann als der Beitrag vergleichbarer Versicherter in der sozialen Pflegeversicherung. Ist nämlich - wie dargelegt - die grundsätzliche Zuordnung der Versicherten teils in die soziale und teils in die private Pflegeversicherung mit dem Grundgesetz vereinbar, dann ist auch eine im Einzelfall höhere Prämie in der privaten Pflegeversicherung verfassungsrechtlich unbedenklich. Dies folgt aus der unterschiedlichen Gestaltung der Versicherungssysteme, nämlich der Orientierung am Einkommen in der sozialen Pflegeversicherung und am individuellen Pflegerisiko in der privaten Pflegeversicherung. Zudem begrenzt das Gesetz die Prämie in der privaten Pflegeversicherung bei entsprechenden Vorversicherungszeiten auf den Höchstbeitrag in der sozialen Pflegeversicherung und auf 150% des Höchstbetrages für Ehepaare, bei denen ein Partner kein oder nur ein geringfügiges Einkommen hat. Die typisierende Unterstellung des Gesetzgebers, privat Krankenversicherte seien in der Regel zur - in dieser Weise - begrenzten Prämienzahlung in der Lage, ist nicht zu beanstanden. Ob bei erheblicher wirtschaftlicher Verschlechterung gegenüber dem Zeitpunkt des Abschlusses des Krankenversicherungsvertrages im Wege einer Härtefallregelung anderes gelten muss, wenn dieser Vertragsschluss vor Inkrafttreten des SGB XI liegt, ist hier nicht zu entscheiden. Keiner der Bf hat eine existentielle Belastung durch die Pflegeversicherungsprämien dargelegt.

3. Der Umstand, dass Betreuung und Erziehung von Kindern in der privaten Pflegeversicherung nicht prämienmindernd berücksichtigt wird, verletzt weder Art. 6 Abs. 1 noch Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG. Art. 6 Abs. 1 GG fordert weder in der sozialen Pflegeversicherung noch in der privaten Pflegeversicherung die Berücksichtigung von Kindererziehungsleistungen bei der Prämien- bzw. Beitragsgestaltung. Zwar strahlt die Vorschrift auf das Privatrecht und damit auch auf das private Versicherungsrecht aus. Es liegt jedoch innerhalb des gesetzgeberischen Spielraums bei der Erfüllung des staatlichen Förderauftrags für Familien, wenn der Staat Versicherungsunternehmen nicht vorschreibt, die Erziehungsleistung bei der Prämiengestaltung zu berücksichtigen. Der Familienlastenausgleich wird zudem durch die prämienfreie Mitversicherung von Kindern und die Begrenzung der Prämie für Eheleute, von denen nur einer Einkommen erzielt, berücksichtigt.

Auch Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. Die private Pflegeversicherung wird im Anwartschaftsdeckungsverfahren finanziert. Sie ist nicht wie die soziale Pflegeversicherung, die auf dem Umlageverfahren beruht, auf die Prämienzahlungen der nachwachsenden Generation angewiesen. Deshalb lässt sich - zumindest derzeit - ein Verfassungsverstoß nicht feststellen. Allerdings enthält das System der privaten Pflegeversicherung schon jetzt Umlageelemente (§ 110 SGB XI). Dies und die prognostizierte Bevölkerungsentwicklung kann dazu führen, dass auch die private Pflegeversicherung immer stärker von Umlageelementen geprägt wird und sich an die soziale Pflegeversicherung angleicht. Dem Gesetzgeber obliegt es dann zu prüfen, ob auch die Funktionsfähigkeit der privaten Pflegeversicherung auf Dauer vom Nachwachsen neuer Prämienzahler abhängt. Dann muss der generative Beitrag wie in der sozialen Pflegeversicherung berücksichtigt werden.

Urteile vom 3. April 2001

- Az. 1 BvR 2014/95, 1 BvR 81/98, 1 BvR 1629/94, 1 BvR 1681/94, 1 BvR 2491/94, 1 BvR 24/95 -

Karlsruhe, den 3. April 2001

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